Nextcloud Highrise: Vom Cloud-Speicher zur integrierten Kollaborationsplattform

Nextcloud: Vom Datei-Silo zur integrierten Plattform – und was Highrise damit zu tun hat

Man kennt das Bild: Ein Server, ein Speicher, eine Web-Oberfläche. Nextcloud hat lange Zeit als Synonym für eine selbstgehostete Alternative zu Dropbox & Co. gegolten. Zu Recht, denn genau hier liegen die Wurzeln des Open-Source-Projekts. Doch wer die Entwicklung der letzten Jahre nur am Rande verfolgt hat, könnte überrascht sein. Nextcloud ist heute etwas ganz anderes – oder vielmehr: sehr viel mehr. Es hat sich von einer reinen File-Hosting-Lösung zu einer integrativen Plattform für digitale Zusammenarbeit gewandelt. Ein zentraler Treiber dieser Transformation ist ein Projekt mit dem Codenamen „Highrise“. Dieser Artikel beleuchtet, wie Nextcloud heute aufgestellt ist, welche architektonische Revolution Highrise bedeutet und was das für IT-Entscheider und Administratoren in Unternehmen und öffentlichen Einrichtungen konkret heißt.

Die Basis: Mehr als nur Cloud-Speicher

Fangen wir grundlegend an. Nextcloud bietet nach wie vor einen leistungsfähigen, sicherheitsorientierten Dateizugriff mit Synchronisation über Clients für alle gängigen Desktop- und Mobilbetriebssysteme. Das Fundament ist solide: Verschlüsselung (Client-seitig und At-Rest), granulare Berechtigungssteuerung, kompatible Protokolle wie WebDAV und ein ausgewachsenes System für externe Speicher. Das allein macht es bereits zur ersten Wahl für Organisationen, die Wert auf Datenhoheit legen und ihre Abhängigkeit von US-amerikanischen Hyperscalern reduzieren wollen.

Doch das Ökosystem wuchs schnell. Über die Jahre kamen Funktionen wie Kalender und Kontakte (mit CardDAV/CalDAV), Videokonferenzen mit Talk, Online-Office-Integration mit Collabora oder OnlyOffice, Projektmanagement-Tools, E-Mail-Clients und unzählige andere Erweiterungen via App-Store hinzu. Hier entstand ein erstes Problem, das vielen Administratoren bekannt vorkommen wird: Jede dieser Funktionen war im Grunde eine eigene, in sich geschlossene Anwendung. Sie teilten sich eine Benutzerverwaltung und ein Design, aber unter der Haube liefen oft separate Prozesse, nutzten eigene Datenbanktabellen und kommunizierten nur begrenzt miteinander. Die Nutzererfahrung war zusammengestückelt, die Performance ließ bei komplexen Setups mit vielen Apps zu wünschen übrig, und die Entwicklung neuer, wirklich integrierter Features wurde zur Herkulesaufgabe.

Der Paradigmenwechsel: Nextcloud als Plattform, nicht als App-Sammlung

An diesem Punkt setzt die strategische Neuausrichtung an. Das Ziel ist ambitioniert: Nextcloud soll nicht länger ein Verbund von Einzeltools sein, sondern eine kohärente Plattform, auf der Anwendungen nahtlos zusammenarbeiten. Stellen Sie sich den Unterschied vor zwischen einem Werkzeugkasten voller einzelner, spezialisierter Geräte und einer multifunktionalen Werkbank, in der alle Komponenten aufeinander abgestimmt sind und Strom, Daten und Steuerung von einer zentralen Quelle beziehen. Dieser Übergang erfordert eine tiefgreifende architektonische Erneuerung. Und genau hier kommt Highrise ins Spiel.

Highrise ist der interne Projektname für die neue, service-orientierte Backend-Architektur von Nextcloud. Es ist kein Produkt, das man separat kauft, sondern das technische Fundament, auf dem die nächste Generation der Anwendungen aufbaut. Im Kern geht es darum, gemeinsame Dienste auszulagern und allen Apps zur Verfügung zu stellen. Statt dass jede App ihren eigenen Chat, ihre eigene Benachrichtigungslogik oder ihr eigenes Such-Indexing implementiert, nutzt sie zentralisierte, hochperformante Dienste.

Die Säulen von Highrise

Ein interessanter Aspekt ist, wie pragmatisch das Team dabei vorgeht. Es wird nicht von heute auf morgen ein Monolith durch ein Mikroservice-Gewirr ersetzt. Stattdessen werden gezielt Engpässe identifiziert und durch skalierbare Dienste entkoppelt. Drei Beispiele sind hier besonders hervorzuheben:

1. Die Notifications- und Aktivitäten-Engine: In einer klassischen Nextcloud-Installation sind Benachrichtigungen über Dateizugriffe, Kommentare oder @-Erwähnungen ein häufiger Flaschenhals. Jede App triggerte eigene Datenbank-Queries, um Aktivitätsstreams zu füllen. Highrise führt einen dedizierten, in Go geschriebenen Dienst ein, der ausschließlich für das Verwalten und Ausliefern von Benachrichtigungen und Aktivitäten zuständig ist. Das entlastet die Hauptdatenbank massiv und macht das System reaktionsschneller.

2. Der „Unified Search“ Indexer: Die Suche über Dateiinhalte, Kontakte, Kalendereinträge und App-spezifische Daten war historisch uneinheitlich. Highrise etabliert einen zentralen Such-Index, der verschiedene Backends (wie Elasticsearch oder selbst OpenSearch) anbinden kann. Für den Nutzer bedeutet das eine schnelle, konsistente Suche über alle seine Daten hinweg. Für den Entwickler eine einfache API, um eigene Inhalte indexieren zu lassen.

3. Das Dashboard und der Widget-Ansatz: Das neue, standardmäßige Dashboard in Nextcloud ist ein direktes Kind der Highrise-Philosophie. Es bietet Widgets für Kalender, E-Mails, Aufgaben, empfohlene Dateien und mehr. Entscheidend ist, dass diese Widgets nicht einfach nur iframes sind, sondern über schnelle, standardisierte APIs ihre Daten von den Backend-Diensten beziehen. Das sorgt für eine flüssige Oberfläche, die sich anfühlt wie eine einzige Anwendung, nicht wie ein Portal mit vielen Links.

Highrise in der Praxis: Spürbare Verbesserungen und neue Möglichkeiten

Was bedeutet das nun konkret für den Administrator am Rechner und den Endnutzer? Zunächst einmal Performance. Durch die Entlastung des PHP-FPM/PHP-App-Servers von Aufgaben wie dem Versand hunderttausender Benachrichtigungen wird die gesamte Installation stabiler und skaliert besser unter Last. Das ist besonders für größere Deployment-Umgebungen mit tausenden aktiven Nutzern ein entscheidender Faktor.

Zweitens eröffnet die service-orientierte Architektur völlig neue Möglichkeiten für die Integration. Ein schönes Beispiel ist die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen Nextcloud Talk (Videokonferenz) und Nextcloud Office (Textverarbeitung). In einer Highrise-gestützten Umgebung kann ein während einer Besprechung gemeinsam bearbeitetes Dokument nahtlos mit dem Meeting verknüpft werden. Kommentare im Dokument können als Benachrichtigungen im Talk-Chat erscheinen und umgekehrt. Diese Vernetzung geht über einfache Links hinaus; sie basiert auf den gemeinsamen Diensten für Identität, Präsenz und Echtzeit-Kommunikation.

Ein weiterer, oft übersehener Vorteil ist die Vereinfachung der Entwicklung. Externe Entwickler oder interne IT-Abteilungen, die eigene Erweiterungen schreiben wollen, müssen das Rad nicht neu erfinden. Sie können auf die stabilen, gut dokumentierten APIs der Highrise-Dienste zurückgreifen, um etwa Chats in ihre App zu integrieren oder Echtzeit-Updates zu implementieren. Das senkt die Einstiegshürde und erhöht die Qualität und Konsistenz von Dritt-Apps.

Die Kehrseite der Medaille: Anforderungen an die Infrastruktur

Natürlich hat diese Architektur auch Implikationen für den Betrieb. Eine traditionelle Nextcloud-Installation lief im Wesentlichen auf einem LAMP/LEMP-Stack (Linux, Apache/Nginx, MySQL/MariaDB/PostgreSQL, PHP). Mit Highrise-Diensten, die zum Teil in Go oder anderen Sprachen geschrieben sind, wird die Landschaft heterogener.

Für kleinere Installationen wird das vom offiziellen All-in-One-Container oder den Paket-Managern gut verborgen. Alles wird als Dienst auf einem System installiert und verwaltet. Für größere, skalierte Umgebungen bedeutet es jedoch, dass man sich mit der Orchestrierung zusätzlicher Prozesse auseinandersetzen muss. Der Notification-Dienst, der Search-Indexer – sie laufen als eigenständige Daemons. In einer Kubernetes- oder Docker-Swarm-Umgebung wird daraus ein Satz zusätzlicher Pods oder Container. Die Konfiguration wird komplexer, das Monitoring muss erweitert werden.

Dabei zeigt sich eine typische Entwicklung im Open-Source-Enterprise-Bereich: Die Ansprüche an Skalierbarkeit und Performance führen zu einer Professionalisierung der Infrastruktur. Was als einfache PHP-App begann, entwickelt sich zu einer verteilten Systemlandschaft. Das ist der Preis für die gesteigerte Leistungsfähigkeit und Integrations­tiefe. Für IT-Teams mit Erfahrung in modernen Deployment-Praktiken ist das jedoch kein Hindernis, sondern ein vertrautes Terrain.

Nextcloud Highrise vs. Traditionelle Groupware und moderne Alternativen

Um die Position von Nextcloud heute einzuordnen, lohnt ein Vergleich. Auf der einen Seite stehen traditionelle, monolithische Groupware-Suiten wie Open-Xchange oder die klassische Kombination aus einem Groupware-Server mit separatem Dateispeicher. Sie sind oft sehr integriert, aber weniger flexibel und modular. Nextcloud mit seiner Highrise-Architektur versucht, die Integration einer Suite mit der Flexibilität und Erweiterbarkeit einer Plattform zu vereinen.

Auf der anderen Seite stehen moderne, API-zentrische Ökosysteme, die auf lose gekoppelte Best-of-Breed-Lösungen setzen: Ein separates Chat-Tool wie Mattermost oder Matrix/Element, ein separates Datei-Sync-Tool wie Seafile, ein separates Office-Paket. Der Vorteil ist maximale Freiheit in der Wahl jedes Tools, der Nachteil ein enormer Integrationsaufwand und oft eine fragmentierte Nutzererfahrung. Nextcloud positioniert sich hier als „integrierendes Zentrum“. Es kann durchaus mit diesen spezialisierten Tools zusammenarbeiten (z.B. über die Talk-Bridge zu Matrix), bietet aber eine konsolidierte Alternative aus einer Hand.

Nicht zuletzt ist der Vergleich mit den großen kommerziellen Cloud-Anbietern wie Microsoft 365 oder Google Workspace interessant. Nextcloud stellt hier nicht die gleiche Fülle an Features in jeder einzelnen Kategorie. Das Microsoft-Ökosystem ist tiefer, Google’s KI-gestützte Tools sind weiter entwickelt. Der Wert von Nextcloud liegt woanders: in der vollständigen Kontrolle über Daten und Infrastruktur, in der Unabhängigkeit von Lizenzgebühren pro Nutzer (abgesehen von Enterprise-Support) und in der Möglichkeit, die Plattform an spezifische Unternehmensprozesse anzupassen. Mit Highrise wird die Lücke in Sachen Nutzererfahrung und Integration jedoch spürbar verkleinert.

Die Zukunft: Wohin entwickelt sich die Plattform?

Die Richtung ist klar. Die Entwicklung von Nextcloud wird weiter darauf abzielen, die Grenzen zwischen einzelnen Apps aufzulösen. Wir werden mehr kontext-sensitive Integrationen sehen. Ein Beispiel: Wenn man in einem Textdokument einen Ortsnamen erwähnt, könnte ein Widget automatisch relevante Dateien (z.B. Fotos von diesem Ort aus der Nextcloud-Galerie) oder Besprechungstermine (aus dem Kalender) vorschlagen. Diese Intelligenz wird nicht durch eine allwissende KI angetrieben, sondern durch die tiefe Vernetzung der Dienste, die Highrise ermöglicht.

Ein weiterer spannender Bereich ist die Verbesserung der Mobil-Erfahrung. Die aktuellen Nextcloud-Apps für iOS und Android sind solide, aber noch nicht auf dem Niveau nativer, spezialisierter Apps. Durch die Backend-Dienste eröffnet sich die Chance, schlankere, schnellere Mobile Clients zu bauen, die direkt mit den hochperformanten APIs kommunizieren, statt das gesamte PHP-Frontend zu belasten.

Für Unternehmen wird das Thema Compliance und Datenschutz weiterhin ein Hauptargument bleiben. Mit Features wie dem „File Access Control“-Framework, das Dateizugriffe basierend auf Standort, Gerät oder Gruppenmitgliedschaft regeln kann, und der vollständigen Auditierbarkeit aller Vorgänge spricht Nextcloud Branchen an, für die Public Cloud keine Option ist: Gesundheitswesen, Rechtsanwaltskanzleien, öffentliche Verwaltung, kritische Infrastrukturen. Highrise verstärkt dies, indem es die Überwachung und Steuerung der einzelnen Dienste ermöglicht.

Fazit: Eine reife Plattform für souveräne Digitalisierung

Nextcloud hat mit Highrise einen wichtigen Reifegrad erreicht. Es ist kein einfaches Datei-Sync-Tool mehr, und auch kein loses Bündel von Open-Source-Apps. Es ist eine ernstzunehmende, integrierte Plattform für Zusammenarbeit und Datenmanagement, die in ihrer Architektur den Anforderungen moderner, skalierbarer IT-Infrastrukturen gerecht wird.

Die Entscheidung für oder gegen Nextcloud ist heute weniger eine Frage der grundsätzlichen Funktionalität – die ist in weiten Teilen gegeben. Es ist vielmehr eine strategische Entscheidung über den eigenen Umgang mit Daten. Setzt man auf maximale Kontrolle, Unabhängigkeit und die Möglichkeit zur Anpassung, ist Nextcloud mit der Highrise-Architektur eine überzeugende Option. Akzeptiert man dafür einen höheren initialen Betriebsaufwand im Vergleich zu „as-a-Service“-Lösungen und den Verzicht auf die allerneuesten KI-Gadgets der Hyperscaler.

Für Administratoren bedeutet der Wechsel hin zur service-orientierten Architektur eine Lernkurve, aber auch mehr Werkzeuge, um eine stabile, performante Umgebung zu schaffen. Für Entscheider bietet es einen gangbaren Pfad zur digitalen Souveränität, ohne auf Produktivität und Integration verzichten zu müssen. Nextcloud mit Highrise ist damit kein Nischenprodukt mehr, sondern ein Eckpfeiler einer selbstbestimmten IT-Strategie. Die Entwicklung der Plattform wird man weiterhin genau beobachten müssen – sie hat das Potenzial, den Markt für On-Premises- und Private-Cloud-Kollaboration noch nachhaltig zu prägen.

Und eines ist sicher: Das Projekt hat den engen Rahmen eines Dropbox-Klons längst gesprengt. Es baut jetzt an einem Fundament, das für die nächste Generation unternehmenskritischer Anwendungen gedacht ist. Ob das gelingt, wird auch davon abhängen, wie gut es der Community und den kommerziellen Partnern gelingt, die neuen architektonischen Möglichkeiten mit Leben zu füllen. Die Richtung stimmt.