Nextcloud: Vom Datei-Silo zur integrierten Office-Plattform

Nextcloud: Vom Datei-Silo zur integrierten Office-Plattform

Es ist eine Art stiller, aber stetiger Wandel, der sich in den Rechenzentren und auf den Servern vieler Unternehmen vollzieht. Was als reine Alternative zu Dropbox & Co. begann, hat sich längst zu einem ernstzunehmenden Herzstück digitaler Zusammenarbeit gemausert. Nextcloud, die bekannteste europäische Self-Hosted-Collaboration-Lösung, will nicht länger nur der Ort sein, an dem Dateien abgelegt werden. Mit den sogenannten Workbooks – oder präziser: mit der tiefen Integration von Office-Funktionen – zielt die Plattform auf den heiligen Gral der IT-Entscheider: eine konsolidierte, kontrollierte und leistungsfähige Arbeitsumgebung aus einer Hand. Doch was steckt wirklich hinter diesem Anspruch? Und wie alltagstauglich ist eine Nextcloud, die auch noch Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Präsentationen beherrschen soll?

Die Evolution einer Plattform: Mehr als nur Sync-and-Share

Die Ausgangslage ist den meisten bekannt. Nextcloud entstand aus einem Fork von ownCloud und hat sich durch eine aggressive Roadmap und ein lebendiges Community- sowie Partnerschaftsmodell deutlich vom Ursprung abgesetzt. Das Kerngeschäft war und ist die Bereitstellung von Dateien über Webinterface, Desktop-Client und Mobile Apps. Dazu gesellten sich schnell Kalender- und Kontaktfunktionen nach CardDAV und CalDAV-Standard, eine leistungsfähige Videokonferenzlösung (Talk) und ein Füllhorn an Integrationsmöglichkeiten via Apps. Die Plattform wurde zum Schweizer Taschenmesser für selbstgehostete Dienste.

Dabei zeigt sich eine klare strategische Linie: Nextcloud will Lücken schließen, die ansonsten zu einem wilden Sammelsurium externer SaaS-Dienste führen. Ein typisches Szenario: Die Firma hostet eine Nextcloud für Dateien, nutzt aber weiterhin Microsoft 365 oder Google Workspace für die eigentliche Bearbeitung von Dokumenten. Die Daten verlassen die geschützte Umgebung, Lizenzkosten fallen an, die Souveränität ist dahin. Genau an dieser Stelle setzen die Office-Funktionen an, die gemeinhin unter dem Begriff „Nextcloud Office“ oder „Collabora Online / OnlyOffice in Nextcloud“ laufen. Richtig spannend wird es aber, wenn man diese Funktionen nicht als isolierte Viewer, sondern als nahtlose Bestandteile des Workflows begreift – als Workbooks im eigentlichen Wortsinn.

Workbooks: Der Kontext macht den Unterschied

Der Begriff „Workbook“ ist dabei etwas irreführend, denn es handelt sich nicht um ein separates Nextcloud-Produkt. Stattdessen beschreibt er die Idee, Dokumente nicht als statische Blobs zu behandeln, sondern als lebendige Arbeitscontainer innerhalb der Nextcloud-Umgebung. Stellen Sie sich eine klassische Excel-Datei vor, die im Marketing-Team geteilt wird. In einer reinen Datei-Cloud wird sie hochgeladen, vielleicht per Link geteilt und dann heruntergeladen, bearbeitet und wieder hochgeladen – das berüchtigte „Datei-Tennis“.

In einer Nextcloud mit aktivierten Office-Funktionen öffnet sich dieselbe Datei mit einem Klick direkt im Browser in einer vollwertigen Tabellenkalkulation. Mehrere Teammitglieder können gleichzeitig daran arbeiten, die Änderungen werden live angezeigt und gespeichert. Das Entscheidende passiert aber drumherum: Die Chat-Funktion von Talk ist vielleicht nur einen Klick entfernt, um eine Zelle direkt zu besprechen. Aufgaben oder Kommentare aus dem Dokument heraus können mit der Nextcloud-Tasks-App verknüpft werden. Der Versionenverlauf der Datei protokolliert nicht nur ganze Uploads, sondern kann vielleicht sogar nachvollziehen, welcher Nutzer welche Formel geändert hat. Das Dokument wird zum Knotenpunkt in einem Netz aus Kollaboration – ein Workbook im wahrsten Sinne.

Technisch basiert dies fast immer auf einer von zwei Engines: Collabora Online oder OnlyOffice. Beides sind eigenständige, open-source-basierte Office-Suiten, die als separater Service in einem Docker-Container oder auf einem eigenen Server laufen und mit Nextcloud über eine wohl dokumentierte API kommunizieren. Nextcloud selbst bringt hier keine eigene Textverarbeitungs-Engine mit, sondern integriert bestehende, exzellente Projekte. Das ist klug, denn es vermeidet Rad-Neuerfindungen und nutzt die Stärken der Spezialisten.

Collabora Online vs. OnlyOffice: Die subtile Wahl

Für Administratoren stellt sich die Frage der Integration. Collabora Online, ein Ableger des renommierten LibreOffice, besticht durch seine beeindruckende Kompatibilität mit dem OpenDocument-Format (ODF) und einen sehr reifen Funktionsumfang. Es fühlt sich an wie eine moderne Version von LibreOffice im Browser und setzt stark auf Offenstandards. OnlyOffice hingegen hat seinen Schwerpunkt auf eine nahezu perfekte Kompatibilität mit Microsoft-Office-Dateiformaten (DOCX, XLSX, PPTX) gelegt. Die Oberfläche ist schlanker und erinnert stärker an die UX von Google Docs oder neueren MS Office-Versionen.

Die Wahl ist selten technisch falsch, aber sie hat Implikationen für die Nutzer. Ein Team, das täglich komplexe, von externen Partnern gelieferte Word-Dokumente bearbeiten muss, wird die Format-Treue von OnlyOffice zu schätzen wissen. Eine Behörde oder Bildungseinrichtung, die aus Prinzip auf offene Formate setzt, dürfte zu Collabora Online neigen. Nextcloud unterstützt beide gleichermaßen, die Integration ist mittlerweile plug-and-play. Ein interessanter Aspekt ist die Lizenz: Während die Community-Versionen beider Suiten kostenfrei sind, bieten beide Unternehmen kommerzielle Support-Pakete und Enterprise-Features an. Für den produktiven Betrieb in Unternehmen ist eine solche Lizenzierung oft sinnvoll, wenn nicht gar notwendig.

Die Praxis: Einrichtung, Performance, Herausforderungen

Die Theorie klingt verlockend, doch wie sieht der Alltag aus? Die Installation der Office-Integration gehört nicht zu den trivialsten Nextcloud-Aufgaben, hat sich aber deutlich verbessert. Vor allem die Installation von Collabora Online via Docker-Container ist mittlerweile gut dokumentiert. Der kritische Punkt ist die Ressourcenplanung. Der Nextcloud-Server selbst ist relativ schlank, aber die Office-Engine ist ein Ressourcenfresser. Jede geöffnete Dokumentensession benötzt eigene Prozesse und Speicher.

Für kleine Teams mit wenigen gleichzeitigen Bearbeitern mag ein gut bestückter 4-Core/8-Thread Server mit 16 GB RAM ausreichen, der sowohl Nextcloud als auch Collabora/OnlyOffice in Containern hostet. Bei größeren Deployment- mit mehreren hundert aktiven Nutzern ist eine Entkopplung zwingend: Nextcloud auf einem Cluster, die Office-Engine auf einem separaten, skalierbaren Pool von App-Servern. Die Skalierung horizontal ist möglich, erfordert aber Know-how in der Konfiguration von Load-Balancern und der gemeinsamen Session-Speicherung.

Die Performance-Erfahrungen sind durchwachsen. Einfache Textdokumente öffnen sich heute flott, die Latenz ist für die alltägliche Arbeit akzeptabel. Bei komplexen Excel-Dateien mit tausenden Zeilen und vielen Verknüpfungen stößt man jedoch an Grenzen. Hier kann die Bearbeitung im Browser deutlich träger sein als in einer nativen Desktop-Anwendung. Nextcloud und seine Partner arbeiten kontinuierlich an Optimierungen, etwa durch besseres Caching oder die Unterstützung von sogenannten „WOPI“-Servern (Web Application Open Platform Interface), einem Microsoft-Standard für die Browser-Integration von Office-Dokumenten. Für Hochleistungsszenarien bleibt der Download und die Bearbeitung in LibreOffice oder Microsoft Office lokal eine valide – wenn auch weniger integrierte – Option.

Sicherheit und Datenschutz: Der unschlagbare Trumpf

Während die reine Leistung manchmal hinter den großen Cloud-Giganten zurückbleibt, ist das Sicherheits- und Datenschutzargument der goldene Schlüssel für Nextcloud. Jedes Dokument, jede Tabellenzeile, verbleibt auf der eigenen Infrastruktur. Für viele Branchen – vom Gesundheitswesen über Anwaltskanzleien bis hin zum öffentlichen Sektor – ist das nicht nur ein Nice-to-have, sondern eine rechtliche Notwendigkeit. Die DSGVO und das neue Cloud-Gesetz (CLOUD Act) haben die Sensibilität für Datenwege geschärft.

Nextcloud baut hier auf ein mehrschichtiges Konzept: Ende-zu-Ende-Verschlüsselung für Dateien (auch wenn diese mit Office-Engines derzeit noch Grenzen gesetzt sind), eine granulare Rechteverwaltung auf Ordnerebene, integrierte Data Loss Prevention (DLP)-Funktionen, die etwa das Teilen von Kreditkartennummern unterbinden können, und ein umfangreiches Audit-Logging. Die Office-Engines profitieren davon: Da sie on-premises laufen, gibt es keinen Datenabfluss zu Drittservern. Selbst die für die Zusammenarbeit notwendigen Verbindungen bleiben innerhalb der kontrollierten Zone.

Ein oft übersehener, aber wesentlicher Punkt ist die Patch-Hoheit. Sicherheitslücken in der Office-Software? Der Administrator kann zeitnah Patches einspielen, ohne auf den Zeitplan eines externen SaaS-Anbieters angewiesen zu sein. In Zeiten von Zero-Day-Exploits ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Allerdings ist dies auch eine Verantwortung: Das Betriebsteam muss wachsam bleiben und Update-Prozesse etablieren.

Integration und Ecosystem: Die Stärke der App-Philosophie

Nextclouds wahre Stärke liegt in seiner Erweiterbarkeit. Die Office-Funktionen sind keine Insel, sondern verzahnen sich mit Dutzenden anderen Apps. Das „Workbook“-Konzept wird erst hier wirklich lebendig. Einige Beispiele:

Die Talk-Integration erlaubt es, während der gemeinsamen Dokumentenbearbeitung einen Video-Call zu starten, ohne die Umgebung wechseln zu müssen. Noch besser: In OnlyOffice kann man direkt einen Chat-Nutzer erwähnen, der dann eine Benachrichtigung erhält.

Mit der Forms-App lassen sich Umfragen erstellen, deren Ergebnisse direkt in eine Nextcloud-Tabelle geschrieben werden, die dann wiederum mit der OnlyOffice- oder Collabora-Engine analysiert werden kann.

Das Dashboard (ein übersichtliches Startportal) kann Widgets anzeigen, die auf Inhalte aus Tabellen oder Dokumenten zugreifen – ideal für Projekt- oder Team-Übersichten.

Über den External Storage-Mechanismus können Office-Dokumente aus anderen Quellen wie einem bestehenden SMB-Netzwerklaufwerk oder einem Object-Storage wie S3 direkt in Nextcloud bearbeitet werden, ohne sie physisch verschieben zu müssen. Das ist ein großer Schritt zur Akzeptanz, denn es umgeht die klassische „Noch eine Ablage“-Problematik.

Für Entwickler bietet die RESTful API umfangreiche Möglichkeiten, Workflows zu automatisieren. Stellen Sie sich vor, ein hochgeladenes Rechnungs-PDF wird per OCR eingelesen, die Daten werden in eine Nextcloud-Tabelle extrahiert, die dann automatisch für die Buchhaltung aufbereitet wird – alles innerhalb der eigenen Infrastruktur.

Die Gretchenfrage: Kann Nextcloud Microsoft 365 ersetzen?

Die direkte Gegenüberstellung ist unfair, aber sie wird gestellt. Nextcloud mit Workbooks ist kein Eins-zu-eins-Ersatz für das gesamte Microsoft-365-Universum. Es fehlen natürlich spezielle Tools wie ein vollwertiges E-Mail-Client-Äquivalent zu Outlook (obwohl Nextcloud Mail durchaus Grundfunktionen bietet) oder hochspezialisierte Anwendungen wie Power BI. Die Collaboration-Features, insbesondere die Echtzeit-Bearbeitung, sind bei Microsoft und Google nach wie vor flüssiger und in manchen Details ausgereifter.

Doch für einen signifikanten Teil des Unternehmensalltags – das Erstellen und gemeinsame Bearbeiten von Dokumenten, Tabellen und Präsentationen, das sichere Teilen, das Projektmanagement im Team – ist Nextcloud mit einer guten Office-Integration mehr als ausreichend. Der Trade-off ist klar: Man tauscht etwas Komfort und absolute Feature-Parität gegen maximale Kontrolle, Datenschutz und langfristige Kostensicherheit (keine Lizenz-Abos). Für viele europäische Unternehmen, die zudem ihre digitale Souveränität stärken wollen, ist das ein attraktives Modell.

Interessanterweise zeigt sich in der Praxis oft ein Hybrid-Ansatz. Nextcloud wird als zentrale, sichere Datenplattform und für Kern-Collaboration etabliert. Für Power-User oder spezifische Abteilungen, die auf absolut kompatible Formatierung angewiesen sind, bleibt eine reduzierte Anzahl von Microsoft-365-Lizenzen bestehen. Nextcloud fungiert dann als „Single Point of Access“, über den auch auf diese externen Dokumente zugegriffen werden kann.

Zukunftsperspektiven und kritische Betrachtung

Die Roadmap von Nextcloud ist ambitioniert. Die Integration von künstlicher Intelligenz für lokale Sprachverarbeitung und Dokumentenanalyse (Stichwort: Nextcloud AI) könnte den Workbooks einen weiteren Schub geben. Stellen Sie sich eine Rechtschreib- und Grammatikprüfung vor, die on-premises läuft, oder eine automatische Verschlagwortung von Dokumentinhalten. Auch die mobile Bearbeitung von Dokumenten auf Tablets und Smartphones wird kontinuierlich verbessert.

Doch es gibt auch Hürden. Die Komplexität einer solchen Gesamtplattform darf nicht unterschätzt werden. Nextcloud ist kein Plug-and-Play-Produkt für Unternehmen ohne IT-Abteilung. Die Wartung, das Monitoring, das Backup und das Update-Management für Nextcloud, die Datenbank, die Office-Engine und eventuell weitere Dienste erfordern qualifiziertes Personal oder den Rückgriff auf einen spezialisierten Dienstleister. Der Markt dafür wächst, aber er ist fragmentierter als der für die etablierten Cloud-Suiten.

Ein weiterer Punkt ist die User Experience. Nextcloud hat in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht, aber die Oberfläche wirkt manchmal noch wie eine Sammlung von Apps, nicht wie ein schlüssiges Ganzes. Der Wechsel zwischen Dateiverwaltung, Office-Bearbeitung und Chat ist nicht immer nahtlos. Hier haben die Monolithen aus Redmond und Mountain View aufgrund ihrer langen Entwicklungszyklen und riesigen Budgets noch einen Vorsprung.

Fazit: Eine reife Option für souveräne Infrastrukturen

Nextcloud mit voll integrierten Office-Funktionen ist kein Nischenprojekt mehr. Es ist eine robuste, enterprise-taugliche Plattform, die den Anspruch erheben kann, die zentrale Collaboration- und Produktivitäts-Hub für viele Organisationen zu sein. Die „Workbooks“-Idee – Dokumente als aktive, vernetzte Arbeitsmittel in einer sicheren Umgebung – ist mehr als Marketing. Sie wird durch die tiefe Integration von Collabora Online oder OnlyOffice und dem übrigen Nextcloud-Ökosystem mit Leben gefüllt.

Die Entscheidung für oder gegen eine solche Lösung ist letztlich strategischer Natur. Geht es primär um maximale Bequemlichkeit und den gesamten Funktionsumfang einer globalen SaaS-Suite, bleibt man bei den großen Anbietern besser aufgehoben. Legt ein Unternehmen jedoch Wert auf digitale Souveränität, strenge Datenschutzcompliance, langfristige Kostenkontrolle und die Unabhänigkeit von externen Anbietern, dann ist Nextcloud die derzeit überzeugendste Open-Source-Alternative auf dem Markt.

Der Aufwand für Betrieb und Integration ist die Eintrittskarte für diese Souveränität. Doch in einer Zeit, in der Daten zum kritischsten Kapital gehören, ist diese Investition für viele keine Frage des Ob, sondern nur noch des Wie und Wann. Nextcloud mit seinen Workbooks liefert eine überraschend ausgereifte Antwort darauf, wie produktive Zusammenarbeit in Zukunft auch jenseits der Hyperscaler funktionieren kann. Es lohnt sich, einen genaueren Blick darauf zu werfen – am besten mit einer Testinstanz und einem echten Team, das die Integration im Alltag stresst. Denn wie so oft in der IT zeigt sich der wahre Wert nicht in Feature-Checklisten, sondern in der gelebten Praxis.